Die Heimat hat es mir erzählt…
Die feurige Kugel
Über Nacht war der Sturm umgesprungen von Nordost auf Süd. Heulend schüttelte er die Erlen- und Weidenbüsche im Muldetale, leckte mit gütiger Wärme die dünne Schneedecke von den Auenwiesen und redete auch dem Strome gut zu, dessen lustige Wellen unter der Eisdecke schmachteten. Als nun auch die Sonne dieser ersten Märztage hinzukam, wurde die Mulde unleidlich ob der schweren Eisfessel vergangener Wintertage. Gewaltig grollte der Strom, und unter dem Eisen keuchte die geballte Kraft, die sich steigerte, als noch die Wassermassen der Schneeschmelze vom Oberlauf des Flusses ihren Weg zum Meere frei haben wollten. Da ging plötzlich ein Zittern über das Eis, und dann kam ein Ton auf, der klang so fein wie das Zipsen einer Maus oder wie splitterndes Glas, dann wurde es wieder ganz still gerade, als ob der Strom noch einmal Atem holte. Bald aber donnerte es dumpf weit oben im Flußlauf, und wie ein grollendes Gewitter ging das Knacken und Donnern stromabwärts. Quellend und gurgelnd drangen die Wasser durch das geborstene Eis, brachen Scholle um Scholle auf, hoben diese empor, schichteten sie übereinander oder wirbelten sie im Kreise der freiwerdenden Bahn.
Das ging ein paar Tage so, dann war das Strombett in der Mitte frei. Aber an den Rändern und in den Buchten stauten und stießen sich die Eisschollen und türmten sich zuweilen zu gefährlichen Bergen auf. Die Menschen standen mit langen Stangen an den Brücken und an den Häusern entlang dem gewaltig geschwollenen Fluß, um die vom Wasser immer neu herangetragenen Schollen in den fließenden Strom abzuleiten und von den Bauwerken fernzuhalten, damit sie in ihrer Wildheit nicht zerstören konnten, was fleißige Menschenhand erbaut.
So stand auch der Lochmüller vom Alaunbergwerk bei Düben nun schon manchen Tag und wehrte den drängenden Schollen, die das Mühlrad zerdrücken wollten. Oft mußte auch die Frau helfen, die sonst oben im Mühlhaus bangend bei den Kindern gesessen. Nach zwei Tagen war auch hier die größte Gefahr vorüber, nur hin und wieder kam noch eine Scholle, und die war längst nicht mehr so ungestüm wie die ersten.
Als der Müller am Ufer stand und mit Befriedigung feststellte, daß wohl das Eistreiben zu Ende sei, sah er von ferne noch eine einzelne Scholle in die Bucht treiben. Noch einmal reckte er seine Stange mit dem spitzen Eishaken zu Wasser, denn die Scholle trieb gefährlich auf das Mühlrad zu. Da sah er, daß sich auf dem Eise irgend etwas bewegte. Ein Mensch konnte es nicht sein, dazu war das Dinglein zu klein …. aber es schien, als habe es Menschengestalt! Mit Windesschnelle kam die Scholle heran. Da winkten zwei kleine Arme hilfesuchend dem Müller zu und eine helle Fistelstimme rief: „Helft, Müller, helft, ich muß an Land, damit ich in der grauen Flut nicht ersaufe. Helft, helft, ehe die Wasser mich wieder abtreiben! – Helft! Ihr sollt es nicht bereuen!“
Aber sicher wollte da der Müller helfen, auch wenn ihm kein Dank zugesagt worden wäre. Mit den langen Stiefeln stand er am Wasser und damit die Scholle nicht weitergetrieben oder hart ans Ufer geworfen würde, hackte er sie mit dem Eishaken an und führte sie langsam ans Ufer.
Hurtig sprang ein Männlein von der Scholle, das war kaum einen Fuß groß, und der Müller hätte es leicht in der Hand tragen können. „Oh“, sagte es, „das war schrecklich! Ich wollte Wasser holen am Fluß, da riß der Stromgeist, dieser Unhold, das Eis los und führte mich fort in wirbelndem Tanze. Dazu hat er gelacht und vor übler Wollust gegrunzt, daß mir das Herz bebte. Nun ist es gut, daß ich wieder Erde unter meinen Füßen habe, denn die Erde ist mein Element. Gebt mir noch heute Nacht eine Lagerstatt, Müller, daß ich ausruhe von den Schrecken, morgen gehe ich wieder zurück zu den Meinen.“
„ Ein Lager bei dem warmen Ofen will ich dir schon gerne geben, und wenn du magst, so soll dir auch meine Frau ein Süppchen kochen, denn du wirst Hunger haben nach langer Irrfahrt“, sagte der Müller in ehrlicher Hilfsbereitschaft.
Dann trippelte das Männlein hurtig neben dem mächtigen Schritt des Müllers zur Mühle. Die Frau des Müllers war ein wenig erschrocken, als sie das kleine Männlein sah, aber desto mehr freuten sich die Kinder. Alle waren gut zu dem kleinen Wesen: Der Mann bot seinen Platz auf der Ofenbank, die Frau kochte schnell ein Süppchen aus Milch und Mehl, die älteren Kinder brachten Teller und Löffel und das kleinste gab sein Bettlein, das man dazu an den Ofen rückte, damit es warm würde. Dann, als das schlotternde Männlein im weichen Flaumenbett lag und nur mit dem geröteten Näslein und den traurigen Äuglein herausschaute, legte der Müller den Finger an den Mund, die Kinder gingen nacheinander leise aus der Stube und die Frau löschte mit dem feuchten Finger das Lichtlein aus.
Anderntags in aller Frühe stand der Müller am Mahlgang, denn der Strom hatte sich vollkommen beruhigt und das Hochwasser fiel. Er schaute gerade am Sichter, wie das weiße Mehl fiel, da stand das Männlein neben ihm, das er noch im Bettlein wähnte.
„Gut, Müller, daß ich dich allein treffe“ sagte das feine, dünne Stimmchen, „ich wollte mich bedanken für die Errettung und gute Pflege. Nun mache ich mich wieder auf den Weg und denke, daß ich morgen daheim bin.“ „Und weißt du auch den Weg gut?“, fragte der Müller.
„Ach, auf der Erde kenn´ ich mich aus, Müller, aber auf dem Wasser bin ich nicht zu Hause. Es ist aber gut, daß du mich nicht gefragt hast, wer und woher ich bin, ob ich Herr oder Knecht sei, ob dir Lohn wird oder nicht.“
„Aber das Süpplein ist doch keines Lohnes wert“, wollte der Müller abwehrend einwerfen, aber das Männlein fuhr fort:
„Du nahmst mich unscheinbares Wesen auf und gabst mir das Leben zurück, das ich schon verloren glaubte. Da - hier habe ich ein winziges Kügelchen, nimm es zum Danke!“
„Aber“, sagte der Müller.
„Nun, du könntest es schon gebrauchen, so nimm es nur! Doch du mußt es bei dir behalten. Leg´s unten in deine Rocktasche, zeige es niemandem, und nur, wenn du es brauchst, ziehe es hervor!“
„Wozu sollte ich schon das kleine Kügelchen brauchen“, fragte der Müller. „Es scheint mir zwar schwer wie Silber, aber es ist doch nur ein totes Ding.“
„Müller“, sagte das Männlein darauf, „ein solches Kügelchen braucht jeder. Mancher weiß es, daß er eines hat. Mancher trägt es bei sich und in sich, wie es sein soll, und behält es verschwiegen bis an sein seliges Lebensende. Mancher aber geht damit zu Markte und prahlt in den Schenken – und verliert es, ehe er sichs recht gedacht.“
„So ist es wohl das Glück?“, fragte der Müller neugierig.
„Nenne es wie du es willst, aber wahre es als kostbares Gut, achte es nicht gering, aber fordere auch nicht, daß es dir das Gold der Sonne vom Himmel hole. Zuweilen in einer stillen Stunde aber betrachte dich im Glanze der kleinen Kugel, und du wirst froh sein deines Lebens und Wirkens.“
Also sagte das Männlein und war plötzlich verschwunden. Der staunende Müller wollte noch etwas sagen, nun hielt er nur noch den Mund offen. Dann schaute er auf die kleine Kugel in der hohlen Hand und sagte aus dem Sinnieren heraus zu sich selber: „Es ist doch gut, daß ich das Männlein aufnahm. Ich hätte ja auch die Scholle in die Flut zurückstoßen können. So wird auch die Kugel etwas Gutes sein, und wenn nicht, so kann ich sie immer in die gurgelnden Wasser des Flusses werfen.“
So steckte er die Kugel wie das Männlein geboten zu unterst in seine Rocktasche. Kollernd und rollend ging nun der Mahlgang Tag um Tag, schied das Mehl aus dem Korn, und es wurde so gut und weiß, daß immer mehr Bauern zum Lochmüller kamen, um mahlen zu lassen. Bald konnte er daher die Arbeit nicht mehr alleine schaffen und er nahm gern den Müllerburschen zur Hilfe an, der eines Tages an der Tür um Arbeit anhielt. Der war ein braver Gesell, konnte arbeiten für zwei und war dazu immer freundlich und guter Dinge. Da drückte der Müller heimlich die kleine Kugel in der Tasche, denn er war bald ein reicher Mann, der täglich einen Taler nach dem anderen in den Beutel legte.
Mit der Zeit aber und über allem Glücke hatte der Müller das kleine Kügelchen in der Rocktasche vergessen. Alles, was ihm vom Schicksal geschenkt wurde, nahm er schließlich als etwas Selbstverständliches und als müsse dies eben so sein und nicht anders.
Da er nun wohlhabend geworden war, dachte er: Was trage ich noch meinen alten, schäbigen Rock, ich will mir einen neuen fertigen lassen, der mir Ehre macht. Bald stand er eines Tages unter der Tür in einem neuen Gewand, an dem die vergoldeten Knöpfe leuchteten. Den alten Rock aber gab er dem Müllersknechte und sagte, indem in seiner Stimme ein Anflug von Hohn und Mißachtung lag: “Da, Bursch, für dich zur Arbeit ist er noch lange gut genug!“
Der Müllerbursche aber sagte: „Gut, Müller, ich will ihn schon nehmen, denn mir taugt er wohl, ich bin ja ein Knecht. Wenn dir aber meine Arbeit in all den Jahren nur so viel wert war wie ein abgetragener Rock, so möchte ich schon bald weiterziehen, dorthin, wo die Arbeit mehr gewertet wird und man für treue Dienste einen neuen Rock bekommt.“
„Huch“, grinste der Müller und höhnte weiter, „so geh, schon, geh du bist ja nicht der einzige Müllersknecht auf der Welt!“ Damit drehte er sich um und ging in die Stadt, wo er in den Schenken den neuen Rock bewundern ließ.
Der Bursche jedoch nahm sein Ränzlein aus der Kammer und zog davon. Als es Abend geworden, der Müller heimgekehrt war und sich gerade an der Türschwelle noch einmal umdrehte, sah er eine große feurige Kugel über den Weg zum nahen Gehölz rollen. Da überkam ihn ein furchtbarer Schrecken, und er dachte an das Küglein, das ihm das Männlein einst geschenkt. Ob es noch im alten Rock ist, den er verschenkt im Übermut? „Hans“, rief er, „Hans!“, so laut er konnte und so schrill, daß seine Frau dachte, er wäre voll Weines. Aber der Müllerbursche war fortgezogen, wohin wußte keiner.--
Oft noch hat der Müller und auch andere Menschen die feurige Kugel bei der Lochmühle gesehen. Immer brachte sie Unglück. Auch das Glück des Müllers verging schnell. Der Fluß riß nach einem großen Hochwasser die Mühle hinweg und ließ nur die Wohngebäude stehen. Als aber der Müller seufzend daran dachte, die Mühlengebäude wieder zu errichten und sich nach schweren Tagen die hochgegangenen Fluten der Mulde wieder beruhigten, siehe, da hatte der Fluß sich ein anderes Bett gerissen, und die Bucht wurde ein stilles Wasser. Einsam standen nun die Wohngebäude am schroffen Ufer des alten Strombettes, in dem sich träge die Wasser sonnten. Man nannte den stillen Flußarm „die taube (tote) Lache“. Weit drüben aber, wohl fünfhundert Meter zum gegenüberliegenden Dorf Schnaditz zu, jubeln die lustigen Fluten dahin, die sonst das Mühlrad getrieben hatten. Not und Leid kamen in das Haus des Lochmüllers, sein Weib starb und die Kinder gingen im Streit auseinander. Er selbst lebte noch lange im grauen Elend, bis ihn der Tod erlöste.
Darum hüte jeder sein Kügelchen Glück und trage es zu unterst im schäbigen Rock. In stillen Stunden aber soll man es heimlich und vor der Welt verborgen hervornehmen und sich freuen am güldenen Glanze – und wäre das Küglein noch so klein, es glänzt allen, die es lieben und ehren!
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