Das Tiefenseer Schloss

In grauer Vorzeit, als noch weithin die Länder von feuchten, undurchdringlichen Wäldern bedeckt waren, als kaum die ersten Siedler sich Felder schufen, da war schon am Rande des großen Sumpfes ein Völklein unter einem gestrengen Herrn, der seines hell auflodernden Zornes wegen mehr gefürchtet als beliebt war. Aber er war edler Herkunft, seine Ahnen führten einmal die Siedler ins Land, deswegen war er ihnen Herr und Gebieter. Mitten im See stand seine Burg, umgeben von Wasser und Sumpf galt sie als uneinnehmbar und war immer den Siedlern in Fällen der Gefahr eine gute Zuflucht gewesen. Das wußte auch der Ritter und das machte ihn unnachgiebig und hart, ihm konnten ja weder Feinde noch Mißgönner etwas antun.

Aber seinem unbeliebten Wesen gab Gott einen guten Schlichter, Odward, dessen Seele treu und dessen Herzen voll Liebe zu seinem Völklein war. Er war der Bruder des Herrn und wie er von edlem Geblüt. Den liebten die in den Lehmhütten, weil er freundlich und allezeit voll Sonne war. Was der Herr zum Bösen tat, das wandte er zum Guten und fand so dankbare Freunde.

An einem stürmischen Novembertag saßen einige Edle in der Burg beim Würfelspiel. Sie würfelten um Gut und Ehre, Leib und Leben, nicht um Kleinigkeiten, denn das ist nicht Sache der Edlen! Auch Odward spielte mit, er hatte Glück - sein Bruder Unglück! Der Herr verlor dies und jenes Stück Land, diese und jene Rechte. - Da wars genug! Da packte wieder der Zorn unwiderstehlich den Erstgeborenen. Wild schoß ihm das Blut ins Hirn, er stach seinen Bruder nieder, noch ehe dieser sein Messer nur zücken und sich verteidigen konnte. Dann drängte der den Schwankenden hinaus aus dem Saal und in unbändiger Wut packte er den Unglücklichen und warf ihn in den schäumenden See.

Da aber begann ein Unwetter furchtbar zu toben. Der Novembersturm peitschte, heulte und johlte, in Strömen goß der Regen herab und pechschwarz wurde die Nacht. Hoch gingen die Wellen, es gurgelte und gurrte in allen Wassern. Der Boden zitterte, es stöhnten die Balken der Burg. Furcht aber und Schrecken malten sich auf den Gesichtern derer, die eben noch mit heißen Köpfen beim Spiel saßen.

Die Luft erbebte unter einem furchtbaren Gedröhn, für Sekunden legte sich Helle über den See, Helle, die die Augen blendete. Denen in der Burg schien es, als ob das Untere nach oben und das Obere nach unten ging, dann brausten die Wasser durch alle Fugen, der Schrei des Entsetzens aber zerschnitt Gewesenes und Kommendes.

Am anderen Tag lag helle Herbstsonne über dem Lande. Die Dörfler fanden den schwerverwundeten Odward am Ufer, die Burg war verschwunden. Das Wasser des Sees aber war dunkel und blutrot.

Odward fand Genesung in treuer Obhut seiner Sippe. Als er im Vollbesitz seiner Kräfte war, baute er eine neue Burg am Rande des Sees, stolzer und schöner denn die andere. Drin wohnten Liebe und Treue und er ließ Licht walten und Güte, denn er war der neue Herr.

Wer aber das versunkene Schloß sehen will, der muß bei Mondschein hinausfahren auf den kleinen See. Drunten liegt es am düsteren Grunde.

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