Das Grab der Treue

Es war zu der Zeit, da der neue Kaiser Heinrich V. die seinem Vater durch den Papst angetane Schmach des Fußfallens zu Casanova rächte, sich selbst Recht schaffte und den Papst, der ihn als Sohn des Geächteten nicht krönen wollte, gefangen setzte und ihn nach 60tägiger Haft schwören ließ, daß kein Papst einem Kaiser mehr mit dem kirchlichen Banne drohen solle.

Da hatte Graf Wiprecht zu Groitzsch, ein wendischer Adliger, das Land zu eigen zwischen Saale und Elster, Pleiße und Mulde und den Gau Nissan an der Elbe von Pirna bis Dresden und den Gau Budissin und vielen Besitz bis hinein nach Böhmen. Er war einer der Mächtigsten in den Landen zwischen Rhein und Weichsel und ein Freund des mächtigen Böhmenherzogs Wratislav. Aber dem Volke brachte auch der neue Kaiser nicht Frieden und Wohlstand. Es gärte und tobte im Volke, und selbst die Herren bekämpften sich untereinander.

Die Sonne ging allabendlich blutig unter über dem Lande und das Recht war ein Schatten geworden und das Leben ein sinnloses Abenteuer. Der Kaiser selbst brach Recht und Glauben und entlohnte seinem Volke die Treue gar schlecht.

Seinem Vasallen Wiprecht von Groitzsch nahm er viele seiner Länder und machte sie zu kaiserlichem Besitz. Das verdroß diesen sehr und er schloß sich den vielen Unzufriedenen im Lande an, die dem Kaiser Fehde hielten.

Hoyer von Mansfeld aber, der kaiserliche Feldherr, brach plötzlich wie ein Unwetter über die Verschwörer her, schlug ihre Knechte und Reisigen zusammen und setzte die Aufsässigen gefangen. Auch Wiprecht von Groitzsch fiel in die Hand des Kaisers und dieser brach den Stab über ihn. Aber die Söhne Wiprechts, welch schon Männer waren, brachten dem Kaiser all ihren Besitz und alle ihre Länder und retteten damit ihren Vater wenigstens das nackte Leben. Wiprecht wurde auf die Burg Düben gebracht und sollte dort bis an sein Lebensende gefangen bleiben.

Die treuen Söhne Wiprechts aber zogen aus ihren Burgen und verließen alles, was ihnen vordem lieb und wert gewesen. Als geächtete sollen sie im dichten Bundorfer Holze bei Leipzig eine einsame Hütte gehabt haben. Das Volk liebt sie, denn sie waren treu und tapfer und edel und gut wie ihr Vater, den der rechtsbrüchige Kaiser gefangen hielt. So wuchs der Haß gegen Graf Hoyer von Mansfeld.

1115 kam es bei Welfesholze bei Gebstedt zu einer Schlacht, und Wiprechts Sohn, den man zum Unterschiede vom Vater Wiprecht den Jüngeren nannte, erschlug im grimmen Kampfe des Kaisers Feldherrn Hoyer von Mansfeld. Neun Wochen nach der Schlacht pochte der junge Wiprecht, als einsamer Landfahrender verkleidet, ans Tor der Burg Düben. So gelang es ihm, sich Zutritt zum Burghof zu verschaffen. Hinter dem einzelnen aber drängten Bewaffnete durch das Burgtor, schlugen die überlisteten Torhüter nieder, nahmen alle Mannen und den Burgherren gefangen und drangen in den Kerker des alten Wiprecht ein, dem sie die lang entbehrte Freiheit zurückgaben.

Nun ging anstelle des Befreiten der Dübener Burgherr mit den Seinen in die Haft. Der feste Keller des Herrenhauses, wo die Gefangenen verwahrt wurden, hatte zwar weder Fenster noch Luftloch, und auch die Türen waren mit schweren Balken wohl gesichert, doch wußte der Burgherr, daß hier der lange unterirdische Gang begann, der schon zu den Zeiten gebaut wurde, da die Sorben hier nur ein festes Haus und den Burgwall hatten. Die Groitzscher freilich, der ältere und der jünger, konnten von den Gange nicht wissen, der im Keller hinter einer falschen Mauer beginnend, sich mehrere tausend Schritte lang, zuerst mit dem Muldeufer nach Westen gehend und sich dann nach Süden wendend, unter dem rauschenden Fluten der Mulde hinweg, nach dem jenseitigen festen Haus den „Altenhofes“ führte. So kam die erste Nacht, da Wiprecht der ältere mit dem jüngeren am eichenen Tisch saß und der Burgherr unten im festen Keller schmachtete. Die oben glaubten den Burgherren wohl verwahrt und hatten nach den Scharfrichter zu Borna geschickt, daß dieser den Eingekerkerten vom Leben zum Tode gebe. Der aber im Kerker war unverzagt. Er zählte die Stunden, und da er tiefe Nacht wähnte, nahm er die Steine vom Eingang zum unterirdischen Gang, eben nur so viele, daß er und die Seinen sich notdürftig hindurchzwängen konnte. Dann setzte er das Loch von innen wider zu. Durch den dumpfen, niedrigen Gang, oftmals mit eingedrungenen Wurzelwerk kämpfend, durch schmutzige, übelriechende Wasserlachen stampfend, kam er nach Stunden mühseligen Gehens jenseits der Mulde in die Freiheit. Als am anderen Tage der Kerker leer war, niemand sich auch denken konnte, wie ein Entweichen der Gefangenen möglich gewesen, tobte Wiprecht, der sich nunmehr selbst überlistet sah. Er glaubte an Verrat und drohte allen, die in der vergangenen Nacht in der Burg waren, insbesondere aber den Knechten und Mägden des geflüchteten Burgherren, das er sie lebendig einmauern ließe, wenn sie ihm bis Sonnenuntergang nicht sagen würden, wo der Entwichene sei.

Als die Frist um war schwiegen die Armen noch immer, denn auch sie wußten ja nichts von dem unterirdischen Gange. Da warf Wiprecht alle Gefangenen in das Verließ, damit sie sich überlegten, ob sie nun endlich gestehen wollten. Aber schon ließ er in der Burgmauer, dicht neben dem trutzigen Torturm, Steine herausbrechen und einen Raum einbauen, der nicht viel größer war, daß man hätte darin aufrecht stehen können. Als auch am nächsten Tage die der Beihilfe zur Flucht Verdächtigen den Aufenthaltsort und den Hergang der Flucht nicht sagen konnten, ließ er alle mit dem Tode bestrafen. Betend und mit heiligen Gesängen gingen die Verurteilten den letzten Gang nach der Burgmauer. Dort mußten sie den engen, neu geschaffenen Raum in der Mauer betreten und Handwerker errichteten vor den Körpern die verschließende Mauer. Bald wuchs diese vor Ihren Augen. Verzweifelt grüßten die Armen zum letzten Male die Sonne dann war der letzte Stein gefügt und die Getreuen des Burgherren waren lebendig eingemauert. Wiprecht von Groitzsch hat nie erfahren, wie die Flucht des Burgherren von Düben geschah. Er hatte in der festen Burg Düben viel Gold, Stoffe, Waffen und Gerät erbeutet und allen seinen Kriegsleuten reichlich davon gegeben. Dann unternahm er Streifzüge in das weite Land, eroberte von Düben aus vierundzwanzig feste Burgen und kam schließlich auch wieder in den Besitz von Groitzsch.

Der jüngere Wiprecht starb schon wenige Jahre nach der Eroberung der Burg Düben, der ältere baute rasch seine ehemalige Macht wieder auf, versöhnte sich mit dem Kaiser und erhielt alle seine Länder wieder zurück. Er wurde Burggraf von Magdeburg und später Markgraf von Meißen. Im Kloster zu Pegau verstarb er am 22. Mai 1124; über seine Zeit, aus der Frühe deutscher Geschichte, ragt sagenumwoben eine Gestalt in unsere Tage  herüber. Viele Jahrhunderte gingen über das Geschehen hinweg, die Sage im Volke vergaß die unschuldigen Knechte nicht, die ihr Leben für die Flucht des Burgherren geben mußten. Und sie konnten nicht vergessen werden, denn das Schicksal setzte ihnen ein Denkmal: Die Stelle in der Burgmauer, wo Ihre Gebeine liegen, blieb all die Jahrhunderte hindurch hell und blank, dunkelte auch nicht, als das feste Haus und all die Gebäude auf dem Burgberg durch Brand in Schutt und Asche fielen, verging nicht, als Teile der Mauer zerfielen und Moos und Unkraut über das Gestein wucherte. Rein wie ihre Unschuld und ihre Treue blieb ihr Grab….!

Anmerkung: Wiprecht der ältere ist zwar nach zuverlässigen Geschichtsforschungen nicht auf der Burg Düben gefangen gehalten worden, sondern vielmehr auf Burg Trifels, jedoch fand die Eroberung der Burg durch den jüngeren Wiprecht statt. Nach der Rückeroberung der Herrschaft Groitzsch wurde der Ältere 1116 im Austausch gegen den in die Hände der Gegner des Kaisers gefallenen Burggrafen Heinrich Haupt von Meißen aus der Haft entlassen. Eigenartigerweise wird aber vielfach in geschichtlichen Abhandlungen angenommen, daß der Ältere auf der Burg Düben in Haft gewesen sei. Das Vorhandensein eines unterirdischen Ganges unter dem Muldefluß hinweg wurde lange angezweifelt, obgleich das immer wieder vom Volke behauptet wurde. Erst spätere geologische Forschungen haben ergeben, daß dies durchaus möglich ist, da eine starke Tonschicht einige Meter unter der Erde ansteht, die den Bau des Ganges ermöglichte.